Nein zum Konzept Temporegime der Stadt St.Gallen

Vernehmlassungsantwort zum «Konzept Temporegime Stadt St.Gallen»

Mit dem «Konzept Temporegime Stadt St.Gallen» schlagen der Kanton und die Stadt die Einführung von flächendeckend Tempo 30 auf den Strassen, insbesondere auch den Kantonsstrassen, der Stadt St.Gallen vor. Die FDP des Kantons St.Gallen sowie die Stadtpartei lehnen das vorgelegte Konzept ab und legen Ihnen die Gründe dafür nachstehend dar. 

Insbesondere kritisieren wir die folgenden Punkte:
• Das Konzept verfehlt das Ziel und vernachlässigt die Gesamtsicht.
• Die FDP der Stadt St.Gallen setzt sich für einen flüssigen Öffentlichen und Individuellen Verkehr mit Tempo 50 auf den Hauptverkehrsachsen ein.
• Tempo 30 soll auch in Zukunft in den Wohnquartieren zum Zuge kommen.

I. Informationsgrundlage gewährleisten

Das «Konzept Temporegime Stadt St.Gallen» stützt sich inhaltlich zu einem grossen Teil auf einen bestehenden Konzeptbericht, welcher der Öffentlichkeit und den Teilnehmerinnen und Teilnehmer der vorliegenden Vernehmlassung derzeit vorenthalten wird. Es ist jedoch zwingend, dass diese bestehenden Informationen veröffentlicht werden. Die fehlende Informationsgrundlage erschwert beziehungsweise verunmöglicht in unverständlicher Art und Weise das Vernehmlassungsverfahren. Insbesondere sollte nachvollziehbar sein, wie die Inhalte des Konzeptberichts selektiert und in die Vernehmlassung integriert wurden. Zum Konzeptbericht und allfällig weiteren vorenthaltenen Informationen muss ausdrücklich Stellung genommen werden können. Die Ausarbeitung des vorliegenden Konzepts fand weitgehend unter Ausschluss der Bürgerinnen und Bürger statt. Auf eine Mitwirkung der Bevölkerung wurde verzichtet, weil der Handlungsspielraum zum jetzigen Zeitpunkt gering sei. Das «Konzept Temporegime Stadt St.Gallen» wird mit der Vernehmlassung also zum ersten Mal durch einzelne Anspruchsgruppen beurteilt. Eine breite Mit-wirkung der direkt und insbesondere auch indirekt betroffenen Interessengruppen muss klar ange-strebt werden.

II. Gesamtsicht vernachlässigt
Der Schutz der Bevölkerung vor Lärm ist zweifelsohne ein wichtiges Anliegen. Der Lärmschutz ist aber nicht das einzige öffentliche Interesse, welches die Behörden zu wahren haben. Das «Konzept Temporegime Stadt St.Gallen» greift hier mit der einseitigen Fokussierung auf das Thema Lärm zu kurz. Einerseits erweckt es den Anschein, dass Temporeduktionen das einzige Mittel zur Lärmbekämpfung seien. Andererseits wird das Temporegime ohne Berücksichtigung der allgemeinen Verkehrspolitik und der Mobilität aufgebaut. Wichtige Interessengruppen wie beispielsweise die Wirtschaft und die Arbeitnehmenden werden wenig bis gar nicht berücksichtigt.

Zudem setzen Stadt und Kanton bei der Lärmbekämpfung auf das falsche Mittel, wenn sie einseitig das ganze Stadtgebiet betreffende Geschwindigkeitsreduktionen verfügen wollen. Diese Massnahme ist nicht bloss sachlich falsch, sondern widerspricht auch dem Willen des Kantonsrates. Dieser hat bekanntermassen beschlossen, dass Lärmsanierungen an Kantonsstrassen durch raumplanerische Massnahmen sowie den Einbau lärmarmer Beläge erfolgen sollen und auf Geschwindigkeitsreduktionen (Abweichungen Tempo 50 innerorts) zu verzichten ist.

III. Standort St.Gallen entwickeln statt behindern
Die Stadt St.Gallen soll ein attraktiver Standort zum Wohnen und Arbeiten sein. Eine Ausbremsung der Mobilität – Individualverkehr und Öffentlicher Verkehr – mit Tempo 30 schadet der Gesellschaft und der Wirtschaft. Das St.Galler Gewerbe braucht kurze und schnelle Wege. Dafür ist ein hierar-chisch gegliedertes Strassennetz eminent wichtig. Nur flüssige Wege sind kurze Wege. Tempo 30 auf Hauptstrassen stört diesen Verkehrsfluss und verlängert die Fahrzeiten. Die Betroffenheit der Unternehmen wäre gross: Arbeitnehmende und Lieferanten sowie Handwerkerinnen und Hand-werker bräuchten mehr Zeit, um zum Betrieb oder zur Kundschaft zu gelangen, was wiederum die Preise erhöhen und die Erreichbarkeit der Stadt reduzieren würde. Umgekehrt würde die Kundschaft aufgrund der längeren Anfahrtswege Geschäfte in St.Gallen meiden. Den volkswirtschaftli-chen Folgen muss in der Gesamtsicht und in der Beurteilung der Verhältnismässigkeit eine höhere Beachtung geschenkt werden.


Mobilität und Erreichbarkeit sind wichtige Themen für die Bevölkerung. Die stetige Verbesserung und Weiterentwicklung beider Aspekte und nicht die Durchsetzung verkehrspolitischer Ideologien müssen das klare Ziel für die Stadt und den Kanton St.Gallen sein. Eine bessere Erschliessung der Längsachse muss beispielsweise angestrebt werden. Das «Konzept Temporegime Stadt St.Gallen» ist stark auf eine Momentaufnahme ausgerichtet und vernachlässigt künftige Entwicklungen. Diese sind jedoch zwingend nötig, um einer steigenden Mobilitätsnachfrage gerecht zu werden und die Standortattraktivität zu fördern. Ein Temporegime losgelöst von den künftigen Entwicklungen behindert das.

IV. Schätzung statt Prüfung der Lärmsituation
Stadt und Kanton St.Gallen behaupten, eine Gesamtsicht vorgenommen zu haben. Dies trifft nicht zu. Die verkehrsplanerische Perspektive fehlt ebenso wie die Gewichtung anderer öffentlicher Interessen. Die gegebene Lärmsituation wurde nicht hinreichend sorgfältig abgeklärt. Der aktuelle kantonale Strassenlärmbelastungskataster (LBK) wurde zur Schätzung der jeweiligen Immissionen bei den einzelnen Häusern und der Einstufung der Lärmbelastung verwendet. Die Berechnung der Werte stützt sich dabei auf verschiedene Daten: Verkehrszählungen und -modelle, signalisierte Geschwindigkeiten sowie Steigungs- und Belagskennwerte. Der LBK ist jedoch gemäss dem Merkblatt des Tiefbauamts kein rechtlich bindendes Instrument. Insbesondere könne aus den im LBK ausgewiesenen Daten kein Rechtsanspruch auf allfällige Entschädigungen, Sanierungen oder Vergütungen abgeleitet werden. Das Modell basiert auf einem groben Lärmmodell, welches über den gesamten Kanton mit einem geringen Detaillierungsgrad aufgebaut wurde. Ob diese Daten effektiv für die Konzeptstudie ausreichend sind und damit eine flächendeckende Einführung von Tempo 30, auch bei Strassen ohne Überschreitung des Immissionsgrenzwertes, begründet werden kann, ist fraglich. Wo bereits Lärmsanierungsprojekte (LSP) mit abweichenden Ergebnissen zum LBK erstellt wurden, wurden die gesicherteren Werte aus den LSP verwendet. Wie oft und wo dies der Fall war, ist leider nicht ersichtlich. Auch würden die festgestellten Differenzen Aufschluss zur Genauigkeit des LBK geben. Unklar ist ferner, welchen konkreten Einfluss die vorgesehene flächendeckende Temporeduktion auf die Lärmbelastung hätte. Schliesslich bleibt nach dem Konzept ungeprüft, ob im Einzelfall nicht andere Massnahmen zielführender wären. Vielmehr soll – gestützt auf ein einziges Gutachten – als erste Stufe nachts in der ganzen Stadt Tempo 30 eingeführt werden. Die weiteren Stufen 2-4 würden damit präjudiziert, ohne dass die Ergebnisse von Stufe 1 auf ihre Wirksamkeit evaluiert würden.

V. Keine flächendeckende Sanierungspflicht
Eine Sanierungspflicht gilt gemäss Lärmschutzverordnung nur in bestimmten Fällen. Das Konzept zeigt nicht auf, wo überhaupt eine solche Pflicht besteht. Überdies verzichtet das Konzept auf alle anderen, ebenfalls dem Lärmschutz dienenden raumplanerischen Massnahmen, Massnahmen an der Quelle (Flüsterbeläge, Massnahmen an den Fahrzeugen etc.), Massnahmen am Ausbreitungsweg (Lärmschutzwände etc.) und Ersatzmassnahmen an Gebäuden (schalldämpfende Fenster, räumliche Anordnung lärmsensibler Innenräume etc.). Ob überwiegende Interessen der angedach-ten Temporeduktion entgegenstehen, wurde nicht geprüft. Ebenso wenig wurde geprüft, ob im Einzelfall Erleichterungen von der Sanierungspflicht gewährt werden könnten. Die Auslöser der Konzeptstudie waren Einsprachen gegen Lärmsanierungsprojekte, weil Temporeduktionen als Mass-nahmen an der Quelle nicht detailliert untersucht wurden. Daraus lässt sich jedoch insbesondere nicht für das gesamte Stadtgebiet folgern, dass flächendeckend Tempo 30 als einzige Massnahme geprüft und umgesetzt werden soll.

Das Bundesgericht sagt diesbezüglich, dass Tempo 30 als Massnahme bei Lärmsanierungen geprüft werden müsse – genauso wie andere Massnahmen. Es trifft deshalb nicht zu, dass das Bundesgericht Tempo 30 zur Lärmreduktion als zwingend notwendig erachtet. Nach der bundesgerichtlichen Rechtsprechung ist es vielmehr zwingend, dass Stadt und Kanton auch alternative Massnahmen prüfen.

VI. Strassenhierarchie gefährdet
Die heutige Strassenhierarchie, welche – je nach Funktion der Strasse – zwischen (verkehrsorientierten) Hauptverkehrsachsen und (siedlungsorientierten) Quartierstrassen unterscheidet, ist sinnvoll. Die flächendeckende Einführung von Tempo 30 würde dazu führen, dass für alle Verkehrsteilnehmenden – Bus, Auto, Velo – die Zuverlässigkeit, Reisezeit und Wirtschaftlichkeit beeinträchtigt würden. Wenn auf allen Strassen Tempo 30 herrscht, wird die Abkürzung durch Wohnquartiere gesucht. Das passiert heute bereits bei Stau. Die Folge wäre Mehrverkehr in den Quartieren und damit die Reduktion der Verkehrssicherheit auf den siedlungsorientierten Strassen. Dies macht keinen Sinn und widerspricht der Ansicht des Bundesrates, der noch im Sommer 2022 bekräftigt hat, dass auf verkehrsorientierten Strassen innerorts auch künftig grundsätzlich Tempo 50 gelte. Damit soll nach dem Willen des Bundesrates sichergestellt werden, dass die Funktionen des übergeordneten Verkehrsnetzes nicht gefährdet werden und der Verkehr auf diesem übergeordneten Netz bleibt. Die Wohnquartiere, in denen zurecht Tempo 30 gilt, werden dadurch vor Durchgangsverkehr und über-mässigem Lärm geschützt. Ständiges Beschleunigen und Abbremsen, das teilweise durch bauliche Verkehrsberuhigungsmassnahmen (Pfählungen, Schwellen etc.) unerwünscht gefördert wird, sollte hier aus Lärmschutzgründen möglichst vermieden werden.

Eine als wünschenswert bezeichnete Verkehrsverlagerung auf ein übergeordnetes Netz – namentlich die Stadtautobahn – scheint angesichts der drohenden Überlastung bis zum Jahr 2030 unrealistisch. Sicher ist vor diesem Hintergrund, dass es ein klares Bekenntnis von der Stadt und vom Kanton für das Gesamtprojekt «Engpassbeseitigung St.Gallen» braucht.

VII. Öffentliche Interessen nicht berücksichtigt
Stadt und Kanton St.Gallen nennen nur ein einziges von der flächendeckenden Einführung von Tempo 30 betroffenes öffentliches Interesse. Dies greift offensichtlich zu kurz. Zudem werden die klarerweise zu erwartenden Kosten für den Öffentlichen Verkehr (Zeit- und damit Attraktivitätsverlust, Kosten für den Angebotsausbau, Kollisionsrisiko mit rechtsüberholenden Radfahrern etc.) nur teilweise und ungenügend beziffert. Es wird behauptet, dass diese Kosten nicht Tempo 30 zuzu-schreiben seien, was klarerweise nicht stimmt. Andere berechtigte öffentliche und private Interes-sen werden sogar komplett verschwiegen. Der jeden Tag anfallende Zeitverlust für eine Vielzahl von Autofahrerinnen und Autofahrern (Pendler- und gewerblicher Verkehr) sowie die Risiken für die Einsätze der Rettungsdienste bleiben unbeachtet. Der Verlagerungseffekt wird nicht berücksichtigt und die Folgekosten des Ausweichverkehrs auf Neben- und Quartierstrassen wird ausgeblendet.

VIII. Verhältnismässigkeit fraglich
Art. 5 der Bundesverfassung (BV) verlangt, dass staatliches Handeln verhältnismässig sein muss. Eine Massnahme muss nicht bloss zur Zielerreichung geeignet, sondern auch erforderlich sein. Die Prüfung, ob die Anordnung von Tempo 30 effektiv flächendeckend erforderlich ist, ist bislang unterblieben. Ebenso wenig wurde geprüft, ob sich die verfolgten Ziele nicht mit milderen Massnahmen erreichen lassen. Das Konzept verletzt deshalb den Grundsatz der Verhältnismässigkeit.

Die FDP des Kantons St.Gallen kritisiert zudem die scheinbare Verhältnismässigkeitsprüfung der Temporeduktionen auf einzelnen Abschnitten. Die Beurteilungsmethode scheint unvollständig und intransparent. Einerseits werden wichtige öffentliche Interessen übergangen – andererseits sind die Einzelbenotungen sowie die Gesamtbeurteilung schwer nachvollziehbar.

IX. Fazit
Insgesamt ergibt sich, dass das «Konzept Temporegime Stadt St.Gallen» allzu einseitig und damit nicht tauglich ist. Die Vorgaben des Kantonsrates, die geltende Strassenhierarchie und die hohen volkswirtschaftlichen Kosten von Tempo 30 auf verkehrsorientierten Strassen bleiben unberücksichtigt. Es ist mit erheblichen Verlagerungseffekten zu rechnen, was die Verkehrssicherheit in den Quartieren gefährdet. Die vorgeschlagenen Temporeduktionen sind unverhältnismässig. Der Lärmschutz kann mit anderen Massnahmen kostengünstiger und mit geringeren Einschränkungen erreicht werden.


Aus all diesen Gründen wird beantragt, auf die Einführung von Tempo 30 auf verkehrsorientierten Strassen und damit auf die Umsetzung des Konzepts in der Stadt St.Gallen zu verzichten.

Abschliessend danken wir für die Möglichkeit, unseren Standpunkt darzulegen, und ersuchen Sie um Berücksichtigung unserer Vernehmlassung.